Hintergrund

Hermine und Stina und ein „bisschen Happy End“

Es war ein später Nachmittag im April, als das Telefon bei den Kleinen Strolchen klingelte. Eine Jugendamt-Mitarbeiterin aus Köln fragte uns, ob wir in dieser Nacht noch zwei kleine Mädchen aufnehmen könnten. Sie hatte Glück. Noch keine 24 Stunden vorher war ein Geschwisterpaar ausgezogen und zwei Bettchen standen frisch bezogen bereit, um die nächsten kleinen Gäste in Empfang zu nehmen.

Im Rheinland hatte am Nachmittag ein Polizeieinsatz in einem Mehrfamilienhaus stattgefunden. Nachbarn wählten den Notruf, weil sie heftigen Streit und Hilferufe gehört hatten. Die Polizei fand in einer völlig verdreckten Wohnung ein Pärchen im Drogenrausch, das sich gegenseitig mit einem Messer verletzt hatte. Sie fanden auch – in einem abgedunkelten Zimmer – zwei kleine Mädchen, die sich ängstlich aneinanderklammerten. Da die Mädchen, 2 und 3 Jahre alt, völlig apathisch wirkten, brachte die Jugendamt-Mitarbeiterin die Kinder zunächst zur Untersuchung in ein Krankenhaus. Die Untersuchung ergab die höchste Konzentration an Drogen, die dort jemals bei einem Kind gemessen wurde. Hermine, so heißt die Kleine, wurde noch gestillt – dementsprechend bekam sie die Drogen direkt mit der Muttermilch. Auch ihre große Schwester Stina hatte Rauschmittel im Blut – man kann nur vermuten, dass sie mit einem Cocktail ruhiggestellt werden sollte. Als das Auto mit den beiden Mädchen auf den Hof der Kleinen Strolche rollte, war es schon später Abend geworden. Auch wenn ein Einzug für uns fast Alltag ist, ist immer Aufregung damit verbunden. Was haben unsere kleinen Gäste erlebt? Wie können wir sie am besten auffangen? Wie wird die erste Nacht? Hermine und Stina, das merkten wir schnell, würden dem gesamten Team viel abverlangen. Obwohl die Kleidung der beiden bereits im Krankenhaus entsorgt wurde, rochen die Mädchen furchtbar. Der Geruch war ein Gemisch aus Rauch, Urin und Dreck. An Baden war jedoch gar nicht zu denken. Die Kinder schrien ununterbrochen. „Und so blieb es tagelang“, erinnert sich Vanessa Schou, die die Inobhutnahme „Die Wiege“ leitet. „Wir konnten nur für sie da sein, sie im Arm halten oder im Tuch tragen. Wir wechselten uns so oft wie möglich ab, da es sehr nervenaufreibend für uns alle war.“ Als der kalte Drogenentzug endlich geschafft war, wurden die Mädchen ruhiger. Übrig blieben nur zwei kleine „Häufchen Elend“. „Was ich nie vergessen werde, ist Hermines Gesicht“, so Vanessa. „Es war wie versteinert. Der Ausdruck hatte nichts Kindliches an sich und die Augen schauten einfach ins Leere.“ Hermine und Stina hatten panische Angst vor allem, besonders aber vor dem Zubettgehen. Die Einschlafbegleitung war eine stundenlange Herausforderung. Tage und Wochen vergingen, und auch als die schlimmste Angst überwunden war, warteten viele neue Herausforderungen auf die beiden. Beide kannten keine warmen Speisen. Hermine war augenscheinlich nur durch Milch ernährt worden und weigerte sich, jegliche feste Form von Nahrung zu sich zu nehmen. Außerdem stand eine Zahn-OP bevor – alle Milchzähne waren durch die Drogen verfault und verursachten Schmerzen. Bei der Großen waren viele Zähne bereits ausgefallen. Durch die Arbeit unserer Kinderpsychotherapeutin und der Reittherapie machten beide jedoch kontinuierliche Fortschritte und fassten immer mehr Vertrauen, gewannen immer mehr Selbstsicherheit. Ein „bisschen Happy End“ Weihnachten wünscht man sich immer ein Happy End. Das haben wir für Hermine und Stina noch nicht. Aber für unsere Kinder sind kleine Schritte oft schon ein großer Erfolg, und so gibt es ein „bisschen Happy End“. Die Schwestern haben gelernt zu spielen und zu lachen. Sie schlafen gut ein und haben Freunde gefunden. Sie haben sich motorisch und sprachlich unfassbar weiterentwickelt und genießen alles, was zu einer Kindheit gehört. Wie es für sie weitergeht? „Wir wissen es noch nicht“, so Vanessa. „Seit ein paar Wochen haben die Eltern von Hermine und Stina wieder regelmäßige Besuchskontakte. Sie machen eine Therapie und bemühen sich sehr. Wir glauben jedoch nicht, dass sie jemals wieder für die beiden sorgen können.“ Hermine und Stina haben übrigens noch einen großen 15-jährigen Bruder, der in einer Pflegefamilie lebt. Er besucht die beiden und kümmert sich liebevoll. Hermine und Stine sind zwei von rund 60 Kindern, die in diesem Jahr Weihnachten bei den Kleinen Strolchen feiern. Dank unserer tollen Mitarbeiter und viele tollen Unterstützern wird es sicher ein unvergessliches Fest für sie und alle anderen. Das Gefühl von Wärme und Sicherheit und nicht zuletzt auch etwas Weihnachtszauber gibt ihnen hoffentlich die Kraft, den nächsten Schritt in ihrem Leben gestärkt und positiv zu gehen.