Hintergrund
Warum gerade sein Dickkopf „Fly“ zu einem guten Therapeuten macht
Es ist früh am Morgen. Der Frost hat die Äste der Bäume am Therapiezentrum mit einem sanften Weiß überzogen. Ich begleite unsere Reittherapeutin Hannah zum Stall und bin etwas neidisch auf ihre winterfeste Kleidung. Alle sechs Pferde stehen friedlich und eingepackt in Decken auf dem Paddock. Als sie Hannah sehen, fliegen die Köpfe hoch und alle machen sich auf den Weg zum Zaun, um sie zu begrüßen. Alle – bis auf Fly. Fly schenkt Hannah zwar ein Kopfnicken, aber der Rest der Körpersprache signalisiert ganz eindeutig: zu früh, zu müde und ich möchte noch meine Ruhe haben. „Typisch unser Dickkopf“, lächelt Hannah. Ich begleite Hannah heute, weil ich etwas über Bodenarbeit lernen möchte. Und genau für diesen Bereich der therapeutischen Arbeit ist Flys Dickkopf mehr als hilfreich.
Unter dem therapeutischen Reiten können sich die meisten etwas vorstellen. Was aber genau bedeutet die Arbeit mit den Pferden am Boden? Bei den Kleinen Strolchen gibt es drei Arten von Bodenarbeit: „Zum einen gibt es die Bodenarbeit, die nur die Pferde betrifft und enorm wichtig ist. Hier wird die Grundlage dafür gelegt, was später auf dem Pferd angewendet wird“, erläutert Hannah. Das Pferd gewöhnt sich z.B. an verschiedene Gegenstände, an bestimmte Abläufe oder erlernt Kommandos. Bodenarbeit bedeutet jedoch auch, die Pferde auszulasten. „Alle Pferde möchten körperlich aktiv sein und einfach mal rennen und springen. Das ist die Grundlage dafür, dass die Pferde generell entspannt und während ihrer Arbeit konzentriert sind.
Dann gibt es die Bodenarbeit mit den Kindern, denn jede Reitstunde beinhaltet auch Bodenarbeit erklärt Hannah. „Für mich beginnt sie damit, dass die Kinder das Pferd begrüßen. Ein Pferd ist ein Lebewesen und verdient die Wertschätzung, als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Die Kinder sollen lernen, dass ein Pferd eben nicht ist wie ein Fahrrad, auf das ich einfach auf- und wieder absteige – es ist ein Freund und muss auch so behandelt werden. Danach werden die Pferde gestriegelt und die Hufe gemacht. Auch das ist wichtig, um die Beziehung zwischen Kind und Pferd aufzubauen. Zur Bodenarbeit gehört es auch, dass das Pferd z.B. geführt wird. Das gibt den Kindern unglaubliches Selbstbewusstsein: „Ich kleiner Mensch schaffe es, dass ein viel größeres Lebewesen mir folgt“, ist die Message hier. „Ich trage Verantwortung für ein anderes Lebewesen. Ich suche einen Weg für uns beide aus, auf dem wir sicher gehen können.“
Die dritte Art der Bodenarbeit findet bei uns im Mutter-Kind Bereich statt. Hannah bietet den Müttern Einzeltherapien an und auch Stunden gemeinsam mit ihren Kindern. Und hier kommt wieder Fly ins Spiel – er ist der Experte, wenn es um die Mütter geht. „Fly ist nicht nur äußerst intelligent, sondern auch besonders feinfühlig und sensibel. Er liest und spiegelt seine Menschen ganz genau. Ist der Mensch nervös, wird er es auch. Ist der Mensch schlecht gelaunt, schaltet er auf stur. Ist der Mensch nicht mit den Gedanken dabei, ist er weg. Deshalb arbeite ich mit Fly und den Müttern an ihrer Konzentration. Ich analysiere mit ihnen ihre Körpersprache und wir üben, klare und eindeutige Signale zu geben. Zudem gehören Entspannungsübungen zu dem Trainingsplan. Wie schaffe ich es, wenn ich hektisch bin, mich wieder zu regulieren. Fly gibt dabei immer ganz ungefiltert Rückmeldung. „Die ersten Stunden sind oft frustrierend, aber umso bedeutsamer sind die Fortschritte“, erklärt Hannah. Geduldig sein, das ist auch bei der Kindererziehung ein zentraler Punkt. Und auch das lernt man perfekt von Pferden. „Ich gebe z.B. den Müttern ein Shetty an die Hand, und wir gehen auf eine Wiese. Alle Shettys sind verfressen und tun alles, um an frisches Gras zu kommen. Das ist jedoch nicht gesund für den sensiblen Shetty Magen. Die Aufgabe der Mutter ist es, zu verhindern, dass die Shettys Gras fressen. Immer, wenn das Shetty fressen will, muss ein klares Stopp-Signal erfolgen. Gefühlt wiederholt sich das hundert Mal in einer Stunde…. immer wieder. Ungeduld bringt rein gar nichts. Die Lektion ist einfach, und meistens erkennen die Mütter die Parallele zur Kindererziehung selbst: Nur Ruhe, klare Regeln und Grenzen, liebevolle Zuwendung und Ausdauer bringen mich und uns ans Ziel. Der nächste Schritt ist die gemeinsame Stunde mit den Kindern. Auch hier gibt es mehrere Aspekte. In erster Linie ist es unbeschwerte Mama-Kind-Qualitätszeit. Aber es stärkt auch das Band zwischen ihnen. „Wenn das Kind reitet, kann die Mutter führen und den Weg vorgeben. Wir tauschen aber auch, und das Kind darf die Mutter führen. Damit wird die Verantwortung füreinander übernommen. Beim Reiten sind Mutter und Kind ein Team. Sie lernen, auf sich zu achten und sich zu vertrauen.“ Mittlerweile hat Hannah Fly die Decke abgenommen, das Halfter angelegt und auf den Reitplatz geführt. Fly schnaubt zufrieden und scheint nun positiv gestimmt in die erste Stunde zu gehen. Und zufrieden sein kann er auch – denn schließlich können die wenigsten von sich behaupten, gerade wegen eines Dickkopfes besonders hilfreich zu sein.