Hintergrund
Interview mit Dr. Ulrike Wendt zum Thema häusliche Gewalt
Dr. Ulrike Wendt ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema häusliche Gewalt.
Was versteht man unter häuslicher Gewalt?
Dr. Ulrike Wendt: Häusliche Gewalt ist alle Gewalt, die sich im Haus abspielt. Das ist körperliche Gewalt, seelische Gewalt und natürlich auch sexuelle Gewalt.
Kann man häusliche Gewalt an Kindern als Außenstehender erkennen?
Dr. U.W.: Das wäre natürlich toll, wenn es ein bestimmtes Zeichen gäbe. Das ist aber leider nicht so. Häusliche Gewalt bei Kindern kann man ggf. an blauen Flecken, Verletzungen oder auffälligem Verhalten erkennen – aber das ist eben nichts Eindeutiges, all das kann natürlich auch andere Ursachen haben.
Welche Ursachen kann häusliche Gewalt haben?
Dr. U.W.: Da gibt es auch sehr viele und sehr unterschiedliche Ursachen. Und diese Ursachen muss man immer individuell betrachten. Man kann sie nicht pauschalisieren. Meistens denkt man, dass Männer mehr häusliche Gewalt an Kindern ausüben als Frauen, aber das stimmt nicht. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen hat man herausgefunden, dass Frauen genauso häufig häusliche Gewalt ausüben wie Männer. Das liegt daran, dass Frauen, die häusliche Gewalt ausüben, häufiger überfordert und psychisch belastet sind. Es gibt einen Spruch, der heißt: „Men are bad, women are mad.“ Also: Männer sind eher von ihrer Psychopathologie her auffällig und Frauen sind öfter psychisch krank. Sie haben z.B. schwere Depressionen, sind suizidgefährdet und planen, ihre Kinder mit in den Tod zu nehmen. Sexuelle Gewalt wird jedoch häufiger von Männern ausgeübt.
Was kann man als Betroffener von häuslicher Gewalt tun? Wo kann man sich melden?
Dr. U.W.: Wir sprechen hier über Kinder. Deshalb möchte ich das auch für Kinder beantworten. Ganz kleine Kinder können sich leider noch nicht selbst Hilfe holen. Sie sind darauf angewiesen, dass jemand erkennt, dass sie häuslicher Gewalt ausgeliefert sind und ihnen hilft. Je größer die Kinder werden, desto eher können sie sich auch selbst Hilfe holen. Da gibt es eine ganze Reihe von Ansprechmöglichkeiten wie z.B. ein Kinder- und Jugendnottelefon. Zudem gibt es viele Beratungseinrichtungen. Kinder können sich natürlich auch an eine Vertrauensperson in ihrer Umgebung wenden, wie z.B. an Lehrer, Erzieher, Betreuer. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten – es ist nur wichtig, dass den Kindern dann auch geholfen wird.
Was kann man als Außenstehender für die Betroffenen tun?
Dr. U.W.: Wenn man den Verdacht hat oder sogar weiß, dass ein Kind Gewalt erdulden muss, ist es das Wichtigste, dass man überhaupt aktiv wird. Zudem ist es sehr sinnvoll, sich genau zu überlegen, wie man im nächsten Schritt vorgeht. Dort wo Gewalt geschieht, ist es manchmal auch für einen selbst gefährlich. Gut ist es, sich Hilfe zu holen, z.B. beim Jugendamt oder auch in der Schule. Es sei denn, wir sprechen von einer akut bedrohlichen Situation. Dann sollte man auch nicht zögern, die Polizei zu rufen.
Welche Folgen hat häusliche Gewalt für die Entwicklung eines betroffenen Kindes?
Dr. U.W.: Ein Kind, das durch Gewalt getötet wurde, hat überhaupt keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. Das geschieht leider ja auch immer wieder. Ein Kind, das schwere Gewalt erlitten hat, hat natürlich sein Leben lang darunter zu leiden. Man kann nicht sagen, was im Einzelnen bei diesem Kind passieren wird. Die Folgen sind sehr unterschiedlich. Manche Kinder werden depressiv, werden traurig, andere werden in ihrer ganzen Lebensführung und Lebensplanung chaotisch. In jedem Fall ist Gewalt in der Kindheit immer ein ganz schwerer Einschnitt in die Entwicklung eines Kindes. Neigen betroffene Kinder im Erwachsenenalter häufiger dazu, selbst Gewalt auszuüben? Dr. U.W.: Das kann man nicht pauschal mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Es liegt an dem Kind. Manche Kinder werden eher traurig und eher zögerlich. Andere übernehmen das aggressive Verhalten. Das hängt von der individuellen Persönlichkeit ab. Als Resümee möchte ich sagen, dass häusliche Gewalt ein riesengroßes Problem ist. Häusliche Gewalt schädigt Menschen fortlaufend, immer wieder und immer neu und es ist ganz wichtig, dass sie erkannt und etwas dagegen getan wird. Doch „etwas“ dagegen zu tun, ist nicht so ganz einfach. Ich halte das sehr mit Hannah Arendt. Hannah Arendt war eine sehr berühmte Publizistin und Historikerin. Sie hat einen markanten Satz geprägt, der super wichtig ist: „Stop and think!“ Also: „Halt an und denk nach!“ Wann immer man sich bewegt, wo immer man geht, wo immer man Kontakt mit Kindern hat, soll man nicht wegschauen. Wann immer man etwas Merkwürdiges sieht oder beobachtet, dann soll man anhalten und nachdenken. Denn es kann sein, dass man jetzt gerade, in diesem Moment derjenige ist, der ein Kind in Not sieht, und wenn man nicht anhält und nicht nachdenkt, dann ist die Chance vertan, diesem Kind in dieser Situation zu helfen. Also denken Sie immer dran: “Stop and think!“