Hintergrund

Warum die Sandspieltherapie und Weihnachten Ana ins Leben brachten.

VOM SCHATTEN DER VERGANGENHEIT IN DIE HOFFNUNG DER ZUKUNFT

Es war mitten in der Nacht, als Ana mit ihrer kleinen Schwester zu uns gebracht wurde. Sie trugen nichts außer ihren Schlafanzügen, und ihre Gesichter hatten fast etwas Maskenhaftes. Damals war Ana sechs Jahre alt. Noch heute – gut eineinhalb Jahre später – erzählt sie von der Nacht, in der ihre Eltern verhaftet wurden. Sie erinnert sich an Polizisten mit gezogenen Waffen, Schreie und dann Stille.

Anas Zuhause war nie ein echtes Zuhause gewesen. Es gab kein Bett nur für sie, immer dicht gedrängt zwischen ihren älteren Geschwistern in einem Zimmer, das nach Dreck und Urin roch. Sie hatten keinen Raum für Träume, keine Möglichkeit, Kind zu sein. Sie kannten keine Spielsachen, keine Bücher, keine Badewanne, keine Zahnbürste, keinen Ort, an dem sie sicher waren, und es gab niemanden, der mit ihnen sprach oder sich um sie kümmerte. Sie hatten nie einen Kindergarten oder gar eine Schule besucht.

Als Ana bei den Kleinen Strolchen ankam, war sie still, in sich gekehrt und unfähig, sich auszudrücken. Sie hatte keine „reale“ Sprache, denn niemand hatte ihr das Sprechen beigebracht. Sie und ihre Schwester hatten vielmehr eine eigene Sprache entwickelt, mit der die beiden sich verständigen konnten. Die ersten Wochen bei den Kleien Strolchen waren ein stummer Kampf. Beide Mädchen versteckten sich oft, in eine Decke gerollt, mit dem Gesicht zur Wand, als wollten sie unsichtbar werden. Sie kommunizierten kaum, und wenn, dann nur mit der Schwester, die sie als „Freundin“ bezeichneten – denn das Konzept „Familie“ war beiden fremd. Es dauerte lange, bis sie Vertrauen fassten. Die Großen Strolche versuchten geduldig, die Mauern einzureißen, die sie um sich gebaut hatten. Langsam lernten die Schwestern, was es bedeutet, sich um jemanden zu kümmern. Sie lernten, was Spielzeug ist, wie man spielt und wie man lacht. Sie lernten einfache deutsche Wörter und kleine Sätze. Es war ein zaghafter Schritt in eine neue Welt. Die Sandspieltherapie als Blick in die Seele Parallel zu ihrer Entwicklung in der Wohngruppe fand ein intensiver therapeutischer Prozess mit unserer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Alrun Ziegert statt. „Ich erinnere mich gut an die ersten Stunden mit Ana. Sie kam, weil man sie geschickt hatte. Sie stand einfach im Raum und befolgte Anweisungen. Sie zog die Schuhe aus, wenn man sie bat – dann wartete sie auf das nächste Signal.“

Schnell wurde klar, dass die Sandspieltherapie der richtige Therapieweg für die Kleine war. Ana fand mit dieser Therapieform einen Raum, in dem sie sich ohne Worte ausdrücken konnte. Was Ana ausdrückte, erstaunte selbst eine erfahrene Therapeutin wie Alrun. „Wir erlebten immer wieder die gleiche Szene: Ana stellte viele Dinosaurier im Kreis auf, und dann wurden alle mit einem‚ sauberen Kehlschnitt‘ getötet. Dass Kinder im Spiel töten, ist nicht ungewöhnlich, aber die Präzision fiel auf.“ Viele Wochen vergingen, bis ein neues Element im Spiel auftauchte: Inmitten der getöteten Dinosaurier stand plötzlich eine Torte. „Für mich war das ganz klar ein positives Signal“, so Alrun. „Es veränderte sich etwas, und schon das allein war gut. Zudem ist eine Torte auch nichts Bedrohliches; man verbindet eher positive Assoziationen wie Gemeinsamkeit oder Feiern damit.“ Die Torte verschwand allerdings bald, und die alten Szenen überahmen wieder das Spiel. Nach weiteren Wochen tauchten Playmobilfiguren auf, die Menschen darstellten. Sie lagen in einer Reihe und schliefen. „Auffällig war, dass Ana selbst nie in den Bildern auftauchte“, so Alrun. „Auf die Frage, wo sie sei, antwortete sie nicht. Dies deutete oft darauf hin, dass sie für sich keinen Platz in der Welt fand.“ Einige Zeit später veränderte sich das Spiel wieder entscheidend. Es kam ein Tisch mit Essen und Trinken ins Bild. Und dann kam die Zeit, die eine wirkliche Wendung herbeibrachte – die Weihnachtszeit. Schon in der Vorweihnachtszeit erschien ein Weihnachtsbaum im Sandkasten. „Dann kam Weihnachten, und die beiden Mädchen erlebten zum ersten Mal ein Weihnachtsfest – mit Freude und in Gemeinschaft. In der ersten Therapiestunde nach Weihnachten stellte Ana einen Baum in den Sandkasten und legte Geschenke in einem Kreis darum. Auch die schlafenden Menschen und ein gedeckter Tisch waren vorhanden. Bis weit in den März spielten wir Weihnachten. Die Weihnachtszeit hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen und ganz klar tiefe positive Gefühle in ihr ausgelöst.“

Der entscheidende Moment in der Therapie kam jedoch in diesem Sommer. Ana baute ein Haus im Sand auf, und plötzlich stand dort wieder die Torte. Ein schwarzer Mann mit Zylinder und Frack erschien im Bild. Ich fragte: „Wer ist dieser Mann?“ Und Ana antwortete lächelnd: Das bin ich. Ich bin die Chefin. In diesem Moment wusste ich, dass sich alles verändert hatte. Das Gute hatte in ihrem Spiel gewonnen. Wir feierten den Moment und sangen gemeinsam ein Geburtstagslied und klatschten für das Playmobil-Geburtstagskind.“

Wie geht es Ana heute? Ana und ihre Schwester sind immer noch bei den Kleinen Strolchen, und es ist auch noch keine Perspektive in Sicht, wie es für sie weitergeht. Aber Ana stellt viele Fragen. Sie ist neugierig auf das Leben geworden. Ihre Augen suchen ständig nach neuen Dingen, die sie entdecken kann. Sie will wissen, wie die Welt funktioniert und besonders alles über Tiere und Pflanzen erfahren. Sie liebt es, mit Lego zu bauen und Playmobil zu spielen. Sie interessiert sich für Buchstaben und Zahlen. Beide Mädchen stehen immer noch vor vielen Herausforderungen. Sie haben so viel verpasst, und es wird schwierig, alles aufzuholen. Aber sie können ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume formulieren. Eine Aussage von Alrun bleibt mir besonders im Kopf: Viele Menschen würden denken, dass Angst das Schlimmste sei. Aber das stimmt nicht. Wenn man Angst hat, kann man sich Strategien überlegen, wie man sie überwindet. Das Schlimmste ist Hilflosigkeit und das Wichtigste sind Hoffnung und die Erfahrung, dass man sein Leben zum Besseren ändern kann. Ana fühlt sich nicht mehr schwach und ausgeliefert. Sie hat die Kontrolle über ihr Leben zurückgewonnen. Sie hat wieder Hoffnung und damit ihren größten Sieg errungen.