Hintergrund

Supervisor Andre Müller-Jekosch unterstützt die Großen Strolche Und immer wieder werden wir gefragt: Wie hält man die schrecklichen Geschichten der Kinder emotional aus?

Viele Kinder leben Wochen oder mehrere Monate bei uns. Sie werden liebevoll aufgepäppelt, tanken Kraft , gewinnen Selbstbewusstsein, finden ihr Lachen wieder und entwickeln sich weiter. Sie wachsen uns sehr nah ans Herz. Und wir wünschen uns, dass die Zeit bei den Kleinen Strolchen nicht umsonst ist, sondern wir sie irgendwann mit einem guten Gefühl in ihren nächsten Lebensabschnitt schicken können. Leider gehen nicht alle Lebensgeschichten der Kinder so weiter, wie wir uns das subjektiv vorstellen. Die Eltern, die ihre kleine Tochter oft tagelang alleine zu Hause gelassen haben, bekommen eine zweite Chance, weil sie nun clean sind. Die Pflegeeltern, die nicht herzlich, nicht zugewandt und nicht interessiert waren, werden trotzdem ausgewählt. Ein Mädchen kann nach einem Missbrauch nicht aufhören zu weinen. Die Mutter, für die Besuchskontakte nur eine Pflichtveranstaltung waren, bekommt ihre Kinder zurück. Die Entscheidung, wie es nach der Inobhutnahme weitergeht, liegt nicht bei uns. Wir können begleiten und beraten. Aber wir müssen die Entscheidung des Jugendamtes oder der Gerichte uneingeschränkt akzeptieren. Was bleibt, ist manchmal ein schlechtes Gefühl, Hilflosigkeit, Trauer, Wut… „Wie halten die Erzieher:innen das aus?“, werden wir oft gefragt. Andre Müller-Jekosch ist Supervisor bei den Kleinen Strolchen und ist in diesen Momenten für die „Großen Strolche“ da. Dass Andre die Mitarbeiter:innen tröstend in den Arm nimmt, ist jedoch eine falsche Vorstellung: „Ich bin kein Wohlfühlberater“, sagt er klar. „Ich bin nicht für Gefühle und Emotionen verantwortlich.“ Was im ersten Moment hart klingt, ist jedoch der einzige Weg, wie seine Klienten und Klientinnen ohne eigene psychische Probleme und langfristig den Beruf ausüben können. „Denn wer aus dem Helfersyndrom nicht herauskommt, wird irgendwann krank“, stellt Andre klar. Alleine werden unsere Mitarbeiter:innen jedoch mit ihren Gefühlen nicht gelassen. Sie haben regelmäßige Supervisionen mit ihren Teams oder bei Bedarf Einzeltermine. „Wenn jemanden ein Fall besonders belastet, betrachten wir ihn natürlich immer gemeinsam und im Detail“, erläutert Andre. „Jedoch ist es langfristig viel wichtiger, den Mitarbeiter mit seiner eigenen individuellen Geschichte und Persönlichkeit zu betrachten. Zum einen gibt es immer Gründe, warum Menschen im Sozialwesen arbeiten. Zum anderen hat jeder Mensch blinde Flecken im Leben – Triggerpunkte, die individuell besonders berühren oder belasten. Mein Job ist es zu fragen: Warum reagierst du in diesem Fall so stark?

 

Schau da mal genauer hin. Ich hole die Klienten in die Realität. Denn Belastungsfaktoren haben sehr viel mit der eigenen Biografie zu tun und sind bei jedem Menschen anders.“ Dementsprechend gebe es, so Andre, nicht den einen belastenden Fall, sondern verschiedene Menschen würden bei gleichen Fällen völlig anders reagieren. „Fühlte ich mich z.B. als Kind allein, werde ich auf Fälle mit Vernachlässigung viel intensiver reagieren als andere Kolleginnen und Kollegen. Habe ich Kinder in dem Alter der Kleinen Strolche, triggern mich vielleicht Fälle mit häuslicher Gewalt besonders.“ „Mein Job als Psychodynamiker ist es, eine provokante Perspektive einzunehmen und aufzuklären, welche eigenen seelischen Konflikte für mein Verhalten verantwortlich sind“, erklärt Andre. Um Menschen helfen zu können, musst du deine eigene Psychodynamik kennen. Haltung schafft Verhalten.“ Auch wenn einige Fälle bei den Kleinen Strolchen nur schwer zu ertragen sind und die Kinder höchstes Leid erfahren haben, seien weitere emotionale Dramen in ihrem Umfeld eher kontraprodukiv. Wer mitleidet, sei selbst hilflos. „Kinder sind oft näher an der Wahrheit als wir Erwachsenen. Unser Job ist es, die kleinen Wesen zu begleiten und ehrlich zu ihnen zu sein. Nur wenn wir mit uns selbst geklärt sind, können wir ihnen sagen: „Dein Weg ist nicht einfach – aber ich bin stark und begleite dich.“

 

Andre Müller-Jekosch arbeitet als Coach und Berater in beruflichen Grenzbereichen und ist einer der bekanntesten psychodynamischen Fallanalytiker des Landes. Die Kleinen Strolche begleitet er seit über 5 Jahren. Nicht nur seine fachliche Qualifikation zeichnet ihn aus, sondern auch der Umgang mit einem eigenen Trauma. Während seiner Arbeit in einer forensischen Aufnahmestation in einer Bremer Psychiatrie wurde er im Jahr 2006 im Dienst bei einem Messerangriff durch einen Patienten lebensbedrohlich verletzt. In seinem Buch „Stich ins Leben“ beschreibt er seinen schweren Weg zurück in ein glückliches Leben. Dieses Jahr startet Andre zudem die Seminarreihe „Psychodynamik für Pflegende“, um den Defiziten am psychodynamischen Verständnis in Pflege und Betreuungsberufen entgegenzuwirken.