Hintergrund

Gewalt gegen Kinder aus historischer Perspektive

„Sah ein Knab ein Röslein stehn“

 Auch wenn wir bei den Kleinen Strolchen häufig mit den schlimmen Lebensgeschichten unserer Kinder konfrontiert werden, war entgegen vieler Annahmen „früher“ nicht immer alles besser. Unsere Gastautorin Chiara-Marie Hauser beschäftigt sich schon seit vielen Jahren beruflich mit dem Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder in der frühen Neuzeit und hat ihre Forschungsergebnisse für diesen Newsletter einmal zusammengefasst.

“Sah ein Knab ein Röslein stehn,

Röslein auf der Heiden,

war so jung und morgenschön,

lief er schnell es nah zu sehn,

sahs mit vielen Freuden.

Röslein, Röslein, Röslein rot,

Röslein auf der Heiden […]

Und der wilde Knabe brach‘s

Röslein auf der Heiden,

Röslein wehrte sich und stach,

half ihm doch kein Weh und Ach,

mußt es eben leiden.

Röslein, Röslein, Röslein rot,

Röslein auf der Heiden.”

 

Den meisten von uns ist dieser Text nur allzu bekannt. Johann Wolfgang von Goethes Gedicht erzählt eine Geschichte, die oft sehr unterschiedlich gedeutet wird, doch mit einem kritischen Blick fällt schnell auf, dass es sich hier um ein deutliches Gewaltverhältnis handelt, das auch sexuelle Gewalt miteinschließen kann. Kinder waren durch die Geschichte hinweg Opfer von Gewalt, sie erlitten Naturkatastrophen, wurden im Zuge von Kriegen sexuell missbraucht oder getötet und sahen sich auch in der häuslichen Sphäre mit Gewalt durch erziehungsbefugte Personen konfrontiert. Es ist erschreckend, wie viele Parallelen sich durch die Jahrhunderte hindurch zu heutigen Zeiten finden lassen.

Laut dem UNICEF Bericht von 2024 ist eines von acht Mädchen mit sexueller Gewalt konfrontiert, bevor sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht hat, was auf globaler Ebene mehr als 370 Millionen weibliche Opfer bedeutet. Wir können für frühere Jahrhunderte keine genauen Zahlen aufstellen, die uns ähnliches aufzeigen könnten und doch wissen wir, dass Mädchen und Jungen in jeglichen Kulturen zu jeglichen Zeiten Opfer sexueller Gewalt wurden. Die Frage, was unter sexueller Gewalt verstanden wird – beziehungsweise wo sie anfängt – muss je nach Perspektive neu gestellt werden. Die frühe Neuzeit – also grob die Spanne zwischen 1600 und 1800 – zeigt uns, dass bei Gerichtsprozessen zumeist nach der Art der Gewalt gefragt wurde, sprich, ob es zu einem Vollzug der sexuellen Gewalt kam, oder “nur” zu einem Versuch. Die Opfer mussten sich Besichtigungen durch Ärzte und/oder Hebammen gefallen lassen, damit unter anderem festgestellt werden konnte, ob es bei jungen Mädchen zu einem Verlust ihrer „Ehre“ kam, die auch ihre Familie direkt betraf. Sexuelle Gewalt meinte demnach weitaus mehr, als “nur” eine körperliche Verletzung, sie beschnitt das öffentliche Ansehen der Opfer und hinterließ auch seelische Wunden, denen erst in späteren Zeiten Aufmerksamkeit gewidmet wurde. All dies sind Beobachtungen, die weiterhin von Aktualität sind, denn auch im vergangenen Jahr wurden einige Fälle der sexuellen Gewalt gegen Kinder in Deutschland publik gemacht: Im Juli 2024 wurde von einem 40-jährigen Vater berichtet, der sein eigenes Baby und drei junge Mädchen aus dem näheren Umfeld missbraucht hat. Über 40 Taten wurden diesem Mann nachgewiesen, die Opfer waren zwischen einem Monat und neun Jahren alt, zehn Jahre Haft sollte er für diese Taten bekommen. In Deiningen wurde ein Mann im April 2024 unter anderem wegen sexuellem Missbrauch an einer Sechsjährigen vor Gericht gestellt, er kam auf Bewährung frei.

Doch neben der interpersonellen Gewalt kamen in den letzten Jahren durch soziale Medien und das Darknet neue Formen der sexuellen Gewalt auf. Der bereits genannte UNICEF Bericht verdeutlicht dieses Problem, denn durch die Inkludierung dieses Bereiches sowie verbaler Gewalt steigt die Zahl von über 370 Millionen Opfer auf über 650 Millionen Mädchen und Frauen, die sich mit Gewalt im Internet konfrontiert sehen oder sahen. 2019 berichtete das Bayerische Landeskriminalamt von einer Seite, bei der pro Monat um die 20.000 Dateien an kinderpornographischem Material geteilt wurden. Im Oktober 2024 konnte in Deutschland ein pädophiles Online-Forum mit mehreren hunderttausend Nutzern stillgelegt werden. Bilder von Kindern landen schnell im Netz, zumeist durch Fotos und Videos, die von Familienmitgliedern geteilt werden, um schöne Erinnerungen festzuhalten – ein Phänomen, das heute “Sharenting” genannt wird. Kinder werden jedoch auch gerne und oft für Marketingzwecke instrumentalisiert, sie rufen positive Empfindungen hervor und generieren schnelle Klicks – Medien, die dabei helfen, dass Minderjährige ungewollt auf solchen Plattformen des Darknets landen. Das Internet vergisst nie, was einmal geteilt wurde, bleibt bestehen.

Kinder erfuhren durch die Jahrhunderte hindurch Gewalt, auch im eigenen Heim. Sie wurden von Personen des engsten Kreises gezüchtigt, doch auch wenn Züchtigungen lange als akzeptierte – teils auch eingeforderte – Art der Gewalt verstanden wurden, kam es auch hier zu Grenzüberschreitungen, bei denen die Kinder den Tod fanden oder diesem nur knapp entkamen. Die Befehlsgewalt innerhalb eines Haushalts hatte ein direktes Züchtigungsrecht miteingegliedert, welches in Deutschland gegenüber Kindern sogar bis in die 1990er rechtlich bestand, bis im Jahr 2000 das Änderungsgesetz „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ in Kraft trat. Jenes Gesetz verankerte das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Unabhängig des sozialen Standes der Kinder war Gewalt zumeist Bestandteil ihres Lebens, was jedoch nicht heißt, dass sie von ihren Eltern nicht geliebt wurden. Man sorgte sich um sie, betete für sie und trauerte auch um sie, sollten sie durch Krankheiten, Kriege oder andere äußere Einwirkungen vom Leben gerissen werden.

Während Kinder heute durch rechtliche Bestimmungen zwar geschützt werden und aktiver als Individuen wahrgenommen werden, die behütet aufwachsen sollen, verdeutlichen uns aktuelle Zahlen, dass Gewalt innerhalb Familien weiterhin ein großes gesellschaftliches Problem ist. Dem Bundeskriminalamt nach wurden im Jahr 2023 in Deutschland über 78.000 Fälle von innerfamiliärer Gewalt verzeichnet, mit mehr als 88.000 Opfern, wobei Kinder die größte Opfergruppe ausmachten. So erschreckend diese Zahlen auch sind, sie verdeutlichen uns, wie wichtig das Thema Kinder- und Jugendschutz ist und wie essenziell die Förderung von Kinderheimen und Orten des behüteten Aufwachsens sind. Heute wissen wir, dass Kinder bereits sehr früh zwischen fairem und unfairem Verhalten differenzieren können, wir wissen, welche Entwicklungsstadien sie durchlaufen und wie essenziell die ersten Jahre ihres Lebens im Kreise von Menschen, die sie umgeben, sind. Es ist wichtig, dass Kinder Anhaltspunkte bekommen und genug freien Rahmen, um auch das Kindsein ausleben zu können. Kinder verdienen es, sorglos aufzuwachsen, unabhängig von ihrer Herkunft und um dies möglich zu machen, sind Zentren, wie die Anlaufstellen der Kleinen Strolche, umso unabdinglicher.

Univ.-Ass.prae. doc Chiara-Marie Hauser

 

Über Chiara-Marie Hauser

Chiara-Marie Hauser promoviert aktuell an der Universität Wien zum Thema Sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Frühen Neuzeit. Seit 2024 ist sie Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Geschichte und parallel Mitarbeiterin des Museums Treuchtlingen. Darüber hinaus ist sie Vorstand der Jugendpresse Österreich sowie Chefredakteurin von „frisch“, der Publikation der Jugendpresse Österreich.