12. Dezember

Die Last, die ein Kind trägt

Es gibt Situationen, die bleiben. Nicht, weil sie laut oder spektakulär sind, sondern weil sie uns tief im Inneren berühren. Eine Mitarbeiterin erzählte mir von einem dieser Momente. Sie öffnete die Haustür der Inobhutnahmegruppe — und sah das Kind, gemeinsam mit seiner Mutter und den Geschwistern, vor dem Tor stehen. Die Mutter nahm ihr Kind in die Arme, küsste es immer wieder,
sprach in einer Sprache, die wir nicht verstanden, mit sanftem, eindringlichem Ton. Das Kind weinte.
Sein Blick wanderte hin und her. Überfordert, unsicher, zerrissen. Als die Mutter es wieder auf den Boden stellte, nahm die Mitarbeiterin seine Hand, führte es sanft die Treppenstufen hinauf.
Die Mutter rief ihm noch etwas nach — Worte, die das Kind verstand, wir aber nicht. Oben, im Flur, brach das Kind zusammen. Es weinte, lehnte sich an, ließ los. Die Mitarbeiterin hielt es. Still. Geduldig. Solange, bis es ruhiger atmete. Sie erzählte später: „Ich habe sein ganzes Gewicht gespürt.
Nicht nur körperlich — auch emotional. Er hat die ganze Last in diesem Moment an mich abgegeben.“ Als sich das Kind beruhigt hatte, sprach es über den Besuch. Über die Mutter. Über eine Narbe, die angeblich ganz anders entstanden sei, als das Kind es zuvor immer erzählt hatte. Die Mutter hatte ihm eine neue Geschichte darüber erzählt — eine andere Wahrheit, die das Kind nun verunsicherte. Man spürte seine innere Zerrissenheit: zwischen dem, was es erlebt hat, und dem, was es glauben soll. Das Kind suchte mit den Augen Bestätigung. Sicherheit. Wahrheit. Die Mitarbeiterin nahm es noch einmal in den Arm und sagte: „Ich glaube dir.“ Nach diesem Erlebnis setzte sie sich dafür ein, dass künftige Umgänge wieder begleitet stattfinden. Nicht, um Kontakt zu verhindern, sondern um das Kind zu schützen. Seine Wahrnehmung. Sein Vertrauen. Sein inneres Gleichgewicht. Manchmal ist unsere Arbeit genau das: Da sein, halten, aushalten — für ein Kind, das gerade die ganze Welt auf den Schultern trägt.