6. Dezember 2023

Wahrscheinlich war es Angst

Noahs erste Tage waren aufwühlend und herzzerreißend. Am ersten Abend weinte er stark, wahrscheinlich vor Angst. Er schlug im Bad mit Händen und Füßen um sich, sobald er eine Zahnbürste sah, wahrscheinlich vor Angst. Sobald die erwachsene Person den Raum verließ, schrie und weinte er stark, wahrscheinlich vor Angst. Als wir ihm einen Schlafanzug anziehen wollten, wehrte er sich vehement, wahrscheinlich vor Angst. Wenn wir Noah baden wollten, schrie er vor Panik, wahrscheinlich durch schlechte Erfahrungen. Zwischendurch erstarrte Noah mehrmals am Tag und schrie ins Nichts, wahrscheinlich vor Überforderung. Wahrscheinlich, weil er fast sein ganzes Leben in einer Wohnung mit den gleichen Menschen verbrachte. Aber alles blieb ein „wahrscheinlich“. Wir wussten es nie wirklich sicher. Denn Noah konnte nicht ausdrücken, was ihm fehlte, weh tat, Angst einjagte oder auch guttat. Und so waren wir einfach da. In allen Momenten. Bei allen Wutanfällen. Wir zeigten jeden Tag aufs Neue Verständnis, brachten neue Geduld auf und boten ihm immer wieder unsere Nähe und Geborgenheit an.